Gute Apps von Musikkünstlern sind selten. Meist sind es verschwurbelte grafische, interaktive Spielereien, die den Musikstücken der Künstler unterlegt sind, dienen lediglich als Hintergrundmusik für Spiele, die thematisch mit dem Song noch lose verbunden sind oder es werden eben Outtakes und Livemitschnitte beigelegt, die man sich durchaus mal aus Interesse anhören kann, aber dann ist auch schon gut.
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel und mein Lieblingsbeispiel für eine perfekte und immersive App ist nach wie vor „Inception“ von Christopher Nolan und Hans Zimmer, bei der die dem Film zu Grunde liegende Idee auf grandiose Art und Weise umgesetzt wurde und tatsächlich einen Mehrwert für den Fan bildet.
Ähnlich stark – auf eine andere Art und Weise- ist im Klassikbereich seit 2013 die „Beethovens Neunte„-App führend, mit über 1 Mio Downloads einer der erfolgreichsten Musik-Apps überhaupt, vielfach ausgezeichnet u. A. mit dem BBC Music Magazine App Award. Ausgerechnet die „Deutschen Grammophon“ steckte dahinter, ein Plattenlabel, bei sich die meisten Leser mit deren traditionellen – ja, fast schon antiken – Logo vermutlich wundern, dass das Label den Boom von Internet und Mp3s überleben konnte.
Sie konnte es, und die „Deutsche Grammophon“ (DG) scheint mir moderner als je zuvor. Denn auch die Nachfolge-App „Vivaldis Vier Jahreszeiten“ (App Store Link), mit das Label in Zusammenarbeit mit Touch Press sein modernes Portfolio ergänzt, ist durchaus erlebenswert:
Kunstvoll, interaktiv und mit Leichtigkeit werden das Werk Vivaldis an Hand Trevor Pinnocks (The English Concert) Einspielung von 1981 und Max Richters spektakulären, mit einem Echo ausgezeichnete Interpretation „Recomposed“ nahe gebracht. Und Nahe bringen ist hier wörtlich gemeint: Während in der oberen Hälfte des Screens symbolisch die Positionen der einzelnen Instrument im Orchester je nach Einsatz aufleuchten, kann der Nutzer in der unteren Hälfte synchron den Noten – oder wer lieber es lieber etwas digitaler mag – der entsprechenden Pianoroll folgen.
Wo vergleichbare Apps hier mit ihrem Funktionsumfang bereits aufhören, legt DG erst richtig los. Der Bereich, der die Orchesteransicht von den Partituren trennt, werden zeitgleich sowohl das Sonett abgespielt, welches den momentan gespielten Part lyrisch erklärt, als auch ein Kommentar über die Instrumente abgegeben, welche Rolle sie momentan spielen und wie diese Rolle zu interpretieren ist.
Wem das zu zu wenig Erlebnis ist, der kann „Recomposed“ auch als Videoaufnahme mitverfolgen und dabei selbständig – sozusagen als sein eigener Regisseur – die Kameraperspektiven wechseln. Da das Konzert eigens für die App aufgenommen wurde, lässt die App sämtliche Perspektivwechseloptionen, die man sonst von Hollywoodfilmen als Zusatzfunktion einer DVD / BD kennt, um Längen zurück.
(Vergleiche ich diese App mit meinem Musikschulunterricht aus den 80er und 90er Jahren auf dem Lande, frage ich mich in Anbetracht der Leichtigkeit, mit der die DG hier die Freude an der Klassik vermittelt, unwillkürlich, wie es meine damaligen Lehrer schaffen konnten, mir die Liebe zu klassischer Musik derart zu vergällen. Kein Wunder wird man als Jugendlicher zur Popmusik gedrängt, ist deren Sinn (sofern vorhanden) doch auch ohne Hilfe leicht zu verstehen.)
Neben zahlreichen weiteren wunderbaren Funktionen, gibt es allerdings doch auch zwei bis drei Wermutstropfen:
- Der für Laien sicherlich spannendste Teil – die Kommentare und das Sonett mit den Interpretationen, die ihm die Musik erklären und Nahe bringen – nehmen leider nur einen verschwindend kleinen Teil des großen Displays ein. Die Orchesteransicht hätte man durchaus kleiner gestalten können, der Übersicht hätte das keinen Abbruch getan. Stattdessen wären eben mehrzeilige Kommentare und das Sonett parallel (ohne ständigen Wechsel der Ansicht) sinnvoller gewesen. So passierte es, dass ich ständig am Wechseln der beiden Ansichten war, weil ich beide Versionen parallel zum Musikgenuss mitlesen wollte.
- Der zweite Wehmutstropfen ist dann doch eher schwäbischer Natur: Für eine – bleiben wir im Laienjargon – „Maxisingle mit Noten und Songtext“ sind knapp 10€ ein ganz schöner Batzen. Der Klassikfreund gibt den Betrag sicherlich gerne für das Gebotene aus, doch da ist für mich ein kleiner Widerspruch: Denn sowohl Vivaldis Vier Jahreszeiten als auch Beethovens Neunte gehören natürlich bereits zur leicht zugänglichen Klassik, die ein Klassikprofi schon fast zur Popmusik zählen möchte. Für Klassikeinsteiger, die sich noch nicht ganz sicher sind, ob sie den Sprung in die Klassik wagen wollen und mit diesen beiden Apps einen ersten Versuch starten wollen, ist der Preis vermutlich eine ganze Ecke zu hoch, denn schließlich bekommt man für den selben Preis auch aktuelle Popalben bei iTunes oder gar „Die 100 besten Werke der Klassik“ als Instantdownload.
- Der letzte Wehmutstropfen ist für mich, dass Android bislang komplett ausgespart wurde. Mag sein, dass Applejünger der Klassik eher wohl gesonnen sind (ich spiele hier mal klischeehaft auf den finanziellen Hintergrund an), eine Android- oder gar eine Win Phone-Version würde ich mir für die nahe Zukunft gerne noch wünschen.
Dann kaufe ich auch gerne weitere Apps aus dem Hause „Deutsche Grammopohon“, die hoffentlich bald herauskommen werden: Smetanas „Mein Vaterland“ und Tschaikowskys „Peter und der Wolf“ wären noch auf meiner Wunschliste. Denn selbst da hat mein Musiklehrer damals versagt!
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