Nach einem Weilchen Hin und Her von E-Mails freue ich mich, dass ich nun folgenden Gastbeitrag von Christoph Kolb über den Sinn und Unsinn von „Gamification“, einer interessanten Betrachtungsweise über das Buzzword der letzten Monate, vorstellen darf:
Gamification My Ass
Die Generation Atari, Commodore und Schneider ebnete uns den Weg, die Gameboys und -girls bekommen selbst schon Kinder und die Generation Playstation ist mit der Ausbildung fertig und erklimmt die Karriereleitern der Welt. Solitär, Wii und DS haben auch die Generation Schallplatte mit an Bord geholt: Digitale Spiele sind aus dem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken. Und das ist gut so; denn Spielen ist dem Menschen so selbstverständlich gegeben, wie Atmen, Essen oder Schlafen.
Doch nicht nur die Spieler und Entwickler schrauben und tüfteln fleißig an neuen Puzzles und Herausforderungen, sondern auch die Wissenschaft ist nicht untätig. In den letzten Jahrzehnten wurde eine Vielzahl an Theorien und Modellen aufgestellt, die den Fragen nachgehen, wie, wann und vor allem warum wir so gerne spielen. Theorien aus der positiven Psychologie, Modelle von Flow und operanter Konditionierung und auch Gamification haben in der Wissenschaft Erklärungsansätze für diese Fragen geboten.
Gamification wurde von Marketern, Onlinern und Designern aller Welt mit offenen Armen und hungrigem Blick als Allheilmittel gegen gelangweilte und „lurkende“ (passive) User empfangen und seitdem mit breitem Strich quer über Websites, Apps und soziale Interaktionen geschmiert. Doch leider scheinen viele Anwender von Gamification die Ansätze des Modells, Spiele selbst und ihre zu Grunde liegenden Prinzipien nicht richtig verstanden zu haben. Ein gescheitertes Konzept wird ebenso wenig lebendiger wenn man es mit Punkten, Ranking und Badges ausstopft, wie ein totes Tier beim Präparator.
Doch Gamification funktioniert, wenn man weiß, was dahinter steckt und man sich dabei vom Begriff „Gamification“ vielleicht besser verabschieden sollte. Also los:
Spiele sind eine ernste Angelegenheit
Um sinnvoll und erfolgreich mit Spielelementen im Interaktionsdesign von Produkten und Services zu arbeiten, muss zu aller erst eine mentale Hürde übersprungen werden: Spiele sind keine Spielerei, kein Kinderkram. Leider bieten unsere westlichen Kulturen uns für diese Aufgabe keinen sonderlich fruchtbaren Boden. „Spiel nicht mit mir“, „Du spielst nur rum“ und auch reine Assoziationen mit dem Wort „Spiel“ sind vornehmlich negativ aufgeladen.
Im besten Fall sind Spiele eine Zeitverschwendung, im schlimmsten Fall sogar gefährliche Instrumente für Eskapismus oder Mediensucht und -gewalt. Dabei vergessen wir als Gesellschaft nur allzu leicht, dass wir unser Leben als Spieler beginnen und unsere ersten Schritte, unsere ersten sozialen Regeln, unsere Sprache und noch viel mehr im Spiel lernen. Das Spiel ist die natürlichste Form des Kompetenzerwerbs von Kindern, die wir leider aus unserer „erwachsenen“ Welt weitestgehend verbannt und verteufelt haben.
Doch erst wenn man Spiele und ihre Spieler jeden Alters ernst nimmt, kann man sich darauf einlassen, Prozesse aus Sicht eines motivierenden Spiels zu betrachten und somit den Nutzern die Lust anzufangen (Neukunden) und die Motivation durchzuhalten (Retention) zu ermöglichen.
Was ist ein Spiel?
Jane McGonigal, Game-Designerin und Direktorin am Institute for the Future, bietet in ihrem Buch „Reality is Broken“ eine interessante Definition: Jedes Spiel ist ein …
- freiwilliger Prozess
- des Überwindens von Hürden
- im Rahmen klarer Regeln
- mit einem konkreten Ziel vor Augen.
Auffällig ist, dass weder die Rede von Spaß, noch von Punkten oder Badges ist. Streng genommen fallen in diese Definition eine Vielzahl von Prozessen; nicht nur typische Spiele à la Schach und World of Warcraft, sondern auch im traditionellen Sinne gänzlich spielfremde Prozesse wie z.B. das Schreiben dieses Artikels:
Der Wunsch nach dem Austausch mit interessierten Lesern entsteht vorerst vollkommen freiwillig. Aber auf dem Weg zum Leser sind einige Hürden zu nehmen: Erfahrungen müssen gesammelt und Wissen muss angeeignet werden. Und dann das schwierigste: Die Angst vor dem leeren Blatt überwinden; sich nicht ablenken lassen. Den Artikel schreiben, umschreiben, korrigieren und sich bis zur finalen Fassung durchbeißen.
Die Regeln sind klar: Nur eine sinnvolle Struktur reift zur Veröffentlichung heran und wird die Gedanken der Leser anregen. Die Sprache muss verstanden werden (Deutsch) und verständlich sein (möglichst wenig Fachsprache). Das Ziel ist, den Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen: Engagierte Leser setzen sich natürlich ebenfalls freiwillig mit dem Inhalt auseinander, spannende Gespräche folgen und neue Möglichkeiten eröffnen sich. Also alles „nur“ ein Spiel? Aber sicher! Und das ist auch gut so.
Vor dem Hintergrund dieser offenen Definition können wir uns nun vom gefährlichsten Dogma der Gamification befreien. Wir müssen Spielelemente nicht mehr wie Sticker verstehen, die wir auf fertige Funktionen und Prozesse kleben, sondern können unsere Produkte und Services selbst wie Spiele interpretieren und die spielerischen Prozesse bewusst aufs nächste Level bringen.
Die Lust anzufangen
Die erste Herausforderung der meisten Produkte und Services, von Apps über Webdienste bis hin zu klassischen Dienstleistungen, ist das Gewinnen neuer Nutzer. Nach dem erregen der Aufmerksamkeit erreichen Spiele die freiwillige Teilnahme über ein einfaches Versprechen. Es wird dem Spieler Spaß machen, das Spiel zu spielen.
Bei einer App sieht das schon etwas anders aus. Jedoch kann man sich dasselbe Prinzip zu nutze machen. Im ersten Schritt resultiert die Lust, eine App zu benutzen, aus dem Abgleich zwischen dem angestrebten Ziel des Nutzers mit den Hürden, die er auf dem Weg zum Ziel überwinden muss. Je attraktiver das Ziel, desto höher wird auch seine Toleranz für schwierige Hürden sein.
Im Falle der App sollte nun vor allem das Ziel durch den Nutzen klar definiert sein. Je trennschärfer der Nutzen charakterisiert ist, desto schneller können potentielle Nutzer entscheiden, ob sie seine Verfolgung aufnehmen wollen. Die Hürden sind jedoch vielfältig. Von Kauf oder Download, über Installation, Lernen der erwarteten Interaktionen und Lesen der Beschreibung, bis hin zum erweiterten Verständnis der überspannenden Abläufe der App steht der Nutzer in der Regel vor mehreren 110 Metern. Als Produktdesigner hat man allerdings bei jeder einzelnen Hürde die Möglichkeit auf den Schwierigkeitsgrad der App (bzw. des Zielerreichens) einzugreifen.
Für Fortgeschrittene ermöglichen die Hürden noch eine weitere Chance. Wie in Spielen können die Hürden selbst zu Herausforderungen werden; eigenständige Etappenziele der App. Der Nutzer entwickelt durch seine Erfolge im Überwinden der Hürden eine starke Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Sie ist das gute Gefühl, das eigene Handeln unter Kontrolle zu haben und die gesetzten Ziele erreichen zu können – und sie bewirkt wiederum eine optimistische Haltung gegenüber dem finalen Ziel.
Hierfür ist ein besonderer Fokus auf einen kontrolliert ansteigenden Schwierigkeitsgrad sowie klares und motivierendes Feedback essentiell. Und ohne Fingerspitzengefühl kann es sogar gänzlich in die Hose gehen, denn gerade die Motivation ist das kostbarste Gut:
Die Motivation durchzuhalten
Eine der größten Gefahren der fehlgeleiteten Gamification ist eine effektive Reduzierung der vielleicht ohnehin schon dürftigen Motivation der Nutzer. Autsch. Wie kann das passieren?
Die Psychologie unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen der Motivation. Auf der einen Seite steht die intrinsische Motivation, die eigene Motivation des Nutzers das Ziel zu erreichen. Der Wunsch zu lernen ist der beste Antrieb sich durch ein Sachbuch oder sein Studium zu kämpfen, die Freude am Teilen von positiven Erlebnissen bringt Nutzer von Social Networks zum sharen und liken, oder der Ehrgeiz die eigenen Grenzen zu überwinden spornt Jahr für Jahr tausende von Menschen an, einen Marathon zu laufen.
Auf der anderen Seite steht die extrinsische Motivation, das sind Belohnungen, die Nutzer neben dem Erreichen des eigentlichen Ziels Anreize bietet, durchzuhalten. Hierzu zählen die berüchtigten Punkte, Badges, monetäre Boni und alle weiteren Verdienste, die außerhalb der ursprünglichen intrinsischen Motivation des Nutzers stehen.
Nun könnte man schnell dem Rückschluss verfallen, dass mehr auch mehr bedeutet. Man kann schließlich nicht zuviel Motivation besitzen. Doch leider legen psychologische Forschungsergebnisse einen anderen Schluss nahe. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt verkraften Nutzer die gemeinsame Präsenz von in- und extrinsischer Motivation, allerdings kann es ab einer bestimmten Menge extrinsischer Motivation schlagartig zu einem Verlust der natürlichen Motivation des Nutzers kommen. Er fokussiert sich nur noch auf die externen Belohnungen und vergisst darüber, was sein eigentliches Ziel war.
Dieser Verlust an intrinsischer Motivation ist nur sehr schwer umzukehren und langfristig der Tod einer jeden App die ihre Nutzer mit Punkten und Badges ködert. Die Nutzerschaft wird sich zunehmend nur noch um das Erreichen der künstlichen Ziele bemühen und der Nutzen der App bricht zusammen.
Dieses Schicksal bedroht seit einiger Zeit die App „Foursquare“, deren Funktion zu Anfang auf das sammeln von Badges und Punkten beim wiederholten Besuch von Geschäften und anderen Orten begrenzt war. Nach dem initialen Hype um die Vormachtstellung beliebter Orte (Der häufigste Besucher wird populär dargestellter „Mayor“) verschiebt sich die Motivation der meisten Nutzer langsam von „ich bin gerne hier“ zu „ich brauche mehr Punkte als andere“.
Der eigentliche Nutzen, angenehme Orte häufiger zu besuchen tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Doch die Gründer und Entwickler sind nicht untätig. Neue Funktionen erweitern und verändern die Ausrichtung der App und versuchen die Motivation der Nutzer zu erhalten.
Natürlich ist nicht nur der Nutzen von Apps in Gefahr. Das wohl prominenteste Beispiel für verlorene Motivation, nahezu überall auf der Welt, ist die traditionelle Schule. Sie soll ein stabiles Umfeld bieten, in dem Kinder und Jugendliche sich Wissen und Fähigkeiten aneignen, mit denen sie das spätere Leben meistern und sich selbst verwirklichen können.
Menschen besitzen den tiefen Wunsch sich zu bilden, neue Problemstellungen zu lösen und über sich hinaus zu wachsen. Niemand muss uns dafür belohnen; das Lernen an sich ist Belohnung genug. Wir sind so „programmiert“: Immer wenn wir etwas Neues sehen oder einen neuen Ansatz finden, ein Problem zu lösen, schüttet unser Gehirn unter anderem Endorphine aus – körpereigene Drogen, die uns helfen Euphorie zu empfinden.
Doch ein sehr früher Gamification-Versuch (auch wenn man ihn noch nicht so nannte) hat diesen natürlichen Wunsch des Lernens zerstört: Punkte – das heißt Noten. Schüler streben nicht mehr nach neuem Wissen und Fähigkeiten, sondern fokussieren sich auf die effizientesten Wege zu einem guten Zeugnis. Sie haben ihre Strategie der Umgebung angepasst. Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir.
Es geht doch besser
Dass Gamification funktionieren kann, zeigt im Umkehrschluss die New Yorker Schule „Quest to learn“. Hier kommen die meisten Schüler sogar freiwillig früher in die Schule um sich auf die Suche nach „Quests“ zu machen. Das sind versteckte Aufgaben aus verschiedensten Bereichen und Schwierigkeitsgraden, die auf dem gesamten Campus verteilt zu finden sind. Schüler, die diese Aufgaben finden, erwerben das Recht sie zu bearbeiten und sich dadurch zusätzliche „Experience“ Punkte zu verdienen.
Denn die Leistungen werden nicht mit Noten bewertet; die Schüler leveln sich in Fächern wie „Storytelling“ oder „The Way Things Work“ hoch um irgendwann Meister ihres Faches zu sein. Ohne feste Altersstrukturen, mit selbst gewählten Schwerpunkten, interdisziplinärem Lernen und messbaren Erfolgen. Klasse.
Eine App, die es begriffen hat, stammt ebenfalls aus Amerika. „Pay with Square“ sieht man den spielerischen Charakter nicht einmal an. Auf den ersten Blick ist es eine mobile Lösung zum Bezahlen in Shops und Cafés. Doch es ist viel mehr als das. Bezahlt wird nur noch über den Vornamen und das eigene Foto, bei Geschäften, denen ich persönlich die Abbuchung via Square gestattet habe. Der Bezahlprozess wird somit für den Nutzer ab dem zweiten Besuch so einfach wie „Ciao“ zu sagen – da bleibt mehr Zeit für persönliche Gespräche und soziale Belohnung, an Stelle von PIN-Eingabe oder Kleingeldzählerei. Die üblichen Hürden wurden entweder entfernt, vereinfacht oder “vermenschlicht“.
Aber damit nicht genug: Nutzer finden über Square weitere Geschäfte die das System unterstützen, d.h. die ebenfalls Wert auf persönliche Interaktionen legen. Ohne Punkte und Rankings erhalte ich somit Belohnungen durch die Erweiterung meiner angenehmen Shopping-Gewohnheiten. Subtil, genial und offensichtlich sehr erfolgreich. Square Apps gibt es seit 2010 und sie verarbeiten im Jahr bereits 2 Milliarden Dollar an Zahlungen. Und das nur in Amerika. Man darf gespannt sein.
Ein knappes Resümee (und den Rest zum Mitnehmen)
Die Forschung hat in den Themen Gamedesign und Gamification klar die Nase vorn. Anwender der Theorien und Modelle können dies als Herausforderung verstehen und die Liste erfolgreicher Spiele in verschiedensten Branchen verlängern. Egal, wie man das ganze dann nennt. Hier ein paar pragmatische Vorschläge für den Start:
Transparente Ziele schaffen. Eine App muss derart präsentiert und vermarktet werden, dass Nutzer freiwillig ihren Vorteil der Nutzung verstehen und annehmen können.
Echte Motivation ist kostbar. Wenn jemand den Nutzen einer App nicht annimmt, steckt der Fehler entweder im Nutzen selbst, oder in seiner Darstellung. Nicht in zu wenigen Badges.
Zuckerbrot und Peitsche. Anreize und Hürden müssen immer kongruent zu dem ursprünglichen Nutzen der App konzipiert werden. Dies unterstützt die ursprüngliche Motivation.
Weniger Bullshit Bingo. In einer Zeit der anspruchsvollen Nutzer sollten wir versuchen nicht jeder wilden Sau nachzurennen. Lernen, Verstehen & Anwenden. Mit Köpfchen!
+1 Punkt Spieleversteher. Sie haben diese Hürde mit Bravur gemeistert. Vielen Dank für Ihre Zeit & Aufmerksamkeit. Jetzt sind Sie am Zug! Fordern Sie mich heraus :)
Über den Autor: Christoph Kolb ist kreativer Geschäftsführer der widjet GmbH aus Köln. Er gründete die Agentur für Interaktionsdesign 2008 gemeinsam mit Alexander Hachmann. widjet konzipiert, designed und realisiert Applikationen der besonderen Art und berät Unternehmen in Design, Psychologie und Strategie. Er ist darüber hinaus als Dozent für Medienpsychologie an der Hochschule Fresenius in Köln tätig, schreibt als Autor, zuletzt im renommierten englischsprachigen „Smashing Book“, über Design- und Business-Themen und redet sich auf Konferenzen und Talks quer durch die Republik um Kopf und Kragen. Und er liebt Spiele.
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