Interview: Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischen mehr und mehr

Die digitale Arbeitswelt verändert die Art, wie wir Arbeit und Freizeit verbinden.
Foto: IZA

Mehr als sechs Stunden ihrer Freizeit verbringen Beschäftigte in Deutschland pro Woche im Schnitt mit beruflichen Aktivitäten. Umgekehrt entfallen durchschnittlich mehr als vier Stunden der formellen Arbeitszeit auf private Erledigungen. Das geht aus einer repräsentativen Befragung im Rahmen der Studie „Arbeiten in Deutschland“ hervor, die das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) gemeinsam mit dem Karrierenetzwerk XING durchgeführt hat. Im Interview mit mobile zeitgeist erklärt Dr. Ulf Rinne, Head of Scientific Management beim IZA, Institute of Labor Economics, wie diese Vermischung von Arbeit und Freizeit zustande kommt.

mz: Laut der repräsentativen Befragung im Rahmen der Studie „Arbeiten in Deutschland“ von IZA und XING verbringen Beschäftigte in Deutschland pro Woche im Schnitt sechs Stunden ihrer Freizeit mit beruflichen Aktivitäten. Wie kommt dieses Ergebnis zustande? Ist die zunehmende Digitalisierung und die Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig zu arbeiten, dafür verantwortlich, dass eine Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit entstanden ist? Oder ist der Workload schlicht mehr geworden, sodass die Arbeit in der freien Zeit erledigt werden muss?

Dr. Ulf Rinne: Zunächst einmal zeigen unsere Studienergebnisse, dass die Vermischung von Arbeit und Freizeit längst Realität ist und keine ferne Zukunftsvision. Nur noch bei jedem fünften Beschäftigten sind diese Lebensbereiche klar voneinander getrennt. Dazu tragen die neuen technischen Möglichkeiten entscheidend bei, die es ja überhaupt erst erlauben, viele berufliche Tätigkeiten ganz flexibel, also auch zuhause oder nach Feierabend zu erledigen. Inwieweit auch die Arbeitsbelastung gestiegen ist, lässt sich aus unseren Ergebnissen nicht unmittelbar ablesen. Wir sehen aber, dass sich bei knapp der Hälfte der Arbeitnehmer berufliche Tätigkeiten in der Freizeit und private Aktivitäten im Job etwa die Waage halten. Insofern muss es nicht zwangsläufig Mehrarbeit sein, die zu Hause erledigt wird.

mz: Umgekehrt beschäftigen sich mehr und mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Arbeitszeit mit Tätigkeiten, die nichtdienstlichen Aktivitäten zuzurechnen sind. Bedingt die ständige Arbeit am Laptop und Smartphone, dass wir die Grenzen nicht mehr klar unterscheiden können?

Dr. Ulf Rinne: Das ist die andere Seite der Medaille, denn die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen tatsächlich in beide Richtungen. Laut unserer repräsentativen Befragung verbringen Beschäftigte im Schnitt mehr als vier Stunden ihrer formellen Arbeitszeit pro Woche mit privaten Erledigungen. Dazu zählen zum Beispiel Urlaubsbuchungen, Online-Shopping oder auch private E-Mails und Anrufe. Verwunderlich ist das kaum: Die „ständige Erreichbarkeit“ per Laptop und Smartphone gilt ja nicht nur für dienstliche Belange, sondern genauso auch für die private Kommunikation.

mz: Gibt es elementare Unterschiede im Bezug zu Geschlechterrollen und Altersunterschieden, die Sie besonders überrascht haben?

Dr. Ulf Rinne: In der Tat haben wir deutliche Unterschiede gefunden, die aber nicht unbedingt überraschen. Ältere Arbeitnehmer trennen strikter zwischen Arbeit und Freizeit als Beschäftigte unter 35 Jahren. Das dürfte einerseits auf deren im Schnitt geringere Online-Affinität zurückzuführen sein, aber auch darauf, dass junge Berufseinsteiger vermehrt in Branchen arbeiten, in denen die Digitalisierung schon stärker Einzug gehalten hat. Der Geschlechtervergleich zeigt, dass Männer mehr zur Vermischung von Arbeit und Freizeit neigen – übrigens in beide Richtungen – als Frauen. Das dürfte einerseits mit Unterschieden in den beruflichen Tätigkeitsprofilen zusammenhängen, aber sicherlich auch mit der immer noch ungleichen Verteilung der Arbeit im Haushalt, die Frauen daheim weniger Zeit für Berufliches lässt.

mz: Führt die zunehmende Vermischung von Arbeit und Freizeit dazu, dass der sogenannte digitale Stress zunehmen wird?

Dr. Ulf Rinne: Wenn wir es nicht schaffen, uns selber Grenzen zu setzen, kann es schnell zu Überforderung kommen – bis hin zu akuten gesundheitlichen Problemen. Umso mehr wird es in Zukunft auf Selbstorganisation und Selbstmanagement ankommen. Das ist auch ein individueller Lernprozess. Ein wichtiger erster Schritt ist, sich diese Herausforderung bewusst zu machen. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass viele Menschen den Flexibilitätsspielraum schätzen und ihn auch nutzen, um Stress zu vermeiden. Es kann durchaus von Vorteil sein, private und berufliche Dinge jeweils dann zu erledigen, wenn es zeitlich am besten passt.

mz: Brauchen wir neue Arbeitsmodelle, die der veränderten Arbeitsweise gerecht werden?

Dr. Ulf Rinne:Klar ist: Überstunden lassen sich heute immer schwerer definieren und erfassen, wenn abends auf der Couch noch schnell eine dienstliche E-Mail getippt oder das Briefing für das nächste Meeting in der Bahn gelesen wird. Nicht von ungefähr gehen immer mehr Unternehmen zu Vertrauensarbeitszeiten über oder preisen Überstunden pauschal ins Gehalt mit ein. Es gibt aber nicht das eine Modell, das für alle Tätigkeiten und Beschäftigungsverhältnisse passt. Vielmehr wird es darum gehen müssen, individuelle, bedarfsgerechte Lösungen zu finden, damit Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen von der neu gewonnenen Flexibilität profitieren können.

mz: Vielen Dank für das Interview.

Dr. Ulf Rinne ist als Arbeitsmarktforscher am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn tätig. Er beschäftigt sich u.a. mit Fragen der Wirksamkeit arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sowie mit den Folgen des technologischen Wandels und der Digitalisierung auf unsere Arbeitswelt.

Über Carsten Thomas 236 Artikel
Autor und Gamingnerd. Stets interessiert an Tech-Innovationen, Medienwandel und Technikutopien. Redakteur bei mobile zeitgeist.

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