Digitalisierung: Die Atomisierung hat gerade erst begonnen

Atomisierung

Mit der mobilen Revolution, die wir seit rund zehn bis 15 Jahren erleben, hat sich das Verhältnis von Marken und Konsumenten stark verändert. Kamen früher die Menschen zu den Marken, müssen sich heute die Marken bewegen und dort sein, wo die Konsumenten sind.

Nutzer erwarten, dass überall dort wo sie eine Marke nutzen möchten, diese auch präsent ist. Das wiederum bedeutet für die Marken, in den verschiedensten Nutzungskontexten zu Hause zu sein und das individuelle Nutzungsverhalten möglichst genau zu kennen.

Unbundle & Remix

Eines der anschaulichsten und auch meist zitierten Beispiele hierfür ist Spotify. Wenn ein Nutzer sein Haus verlässt erwartet er, dass er seine Musik im Auto oder auf dem Fahrrad möglichst nahtlos weiterhören kann. Mussten früher Musikliebhaber in den Plattenladen, die Scheibe eines Künstlers erstehen, sie nach Hause tragen, auspacken und auf einem hierfür extra angeschafften Gerät abspielen (und nur dort), so folgt ihnen heute die ganz persönliche Musikauswahl aus verschiedenen Interpreten, meist ohne ein aktives Zutun überall hin. Spotify ist von PCs über iOS und Android bis hin zu ausgewählten Smart TVs und Autos überall verfügbar und reist sozusagen mit dem Nutzer mit.

Verlage sehen sich durch Facebooks „Instant Articles“ oder Apples „News“ immer mehr dazu veranlasst, ihre Inhalte breit zu streuen und sie auch ausserhalb des eigenen „Silos“, der eigenen Webseite oder App, anzubieten. Die Inhalte werden also zunehmend von ihrer Erstellung, ihrem Ursprung entkoppelt, sie „atomisieren“ sich ebenso wie die Services.

In der hinsichtlich mobiler Nutzungskonzepte innovativen Türkei hat die Garanti Bank schon früh auf den Nutzungskontext und eine Öffnung der eigenen Services gesetzt. Im iGaranti-Dienst sind Live-Updates ebenso vorhanden wie eine tiefe Integration von Social Media, die es ermöglicht, Freunden auf Facebook Geld zu senden. Ein Mobile Wallet für verschiedene Kreditkarten steht ebenso zur Verfügung wie eine Vorab-Benachrichtigung an den nächstgelegenen Geldautomaten, dass man zum Abheben auf dem Weg ist.

In einer Welt von mobilen Geräten, Wearables und zunehmend vernetzten Dingen (Internet of Things) sind Marken gezwungen, auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Dies führt dazu, dass die eigenen Präsenzen immer mehr an Bedeutung verlieren und die Nutzer immer stärker im Mittelpunkt der Konzepte stehen.

Das Ende der Apps

Was bedeutet dies für mobile Applikationen? Werden sie auf lange Sicht verschwinden? Braucht eine Süddeutsche Zeitung noch eine eigene, teure App, wenn die Nutzer die Artikel direkt auf Facebook lesen? Muss Rewe noch eine App unterhalten, wenn die Sonderangebote mit Google Now viel direkter an die Nutzer ausgespielt werden können?

Langfristig wird sich der Trend zur „Atomisierung“ ausweiten. Viele Entwicklungen in diese Richtung sehen wir bereits mit dem anhaltenden App Unbundling, den Single Purpose Apps und der Tatsache, dass sich immer mehr Entwickler an den Transaktionen und nicht mehr an einem möglichst breiten Leistungsangebot orientieren. Dienste und damit auch Marken werden sich um Nutzungsszenarien scharen, um den Menschen kontextsensitive und personalisierte Angebote zu machen.

Hotspots

Es wird so etwas wie „Brennpunkte“ geben, also Orte, die oftmals physische Orte sind, zum Beispiel unser zu Hause (Smart Home), unsere Autos (Smart Car) oder unser Fitness Studio. Die hier vorhandenen Devices, Sensoren und SIM-Karten werden aus unserem Verhalten lernen und uns passende Services anbieten. Das Smart Home steuert die Temperatur je nachdem, wie wir sie gern zu welcher Tageszeit und Nutzungsszenario haben möchten. Unser Auto weiß, wann wir morgens los fahren und heizt schon einmal das Auto auf die für uns angenehme Temperatur (siehe Tesla).

Ein zentraler Punkt wird unser Smartphone bleiben, zumindest noch auf einige Zeit. Hier bewegen wir uns heute je nach Problemstellung von einer App zur anderen. Da sind für einen Reisenden ganz schnell einmal drei bis vier verschiedene Apps im Einsatz, schon in dem Moment, in dem die Reise geplant und gebucht werden muss. In diesen Tagen hat Google auf der ITB „Google Destinations“ vorgestellt. Jetzt kann man seine Reise sozusagen in einem Rutsch planen und buchen, ohne sich von einem Reiseportal zum anderen zu hangeln. Wenn der Nutzer dann in einem weiteren Schritt alle Buchungsbestätigungen, Check-Ins und Reisetipps ebenfalls dort aggregiert findet, verbessert sich das Reiseerlebnis stark.

Ebenso wird sich zum Beispiel der stationäre Handel viel mehr an den Nutzern orientieren müssen. Der Besuch in der Innenstadt ist eben nicht mehr dazu da, schnell und rational Einkäufe zu tätigen. Es geht um Erlebnisse, Unterhaltung und soziale Kontakte. Hier kann sich ein Händler nicht mehr nur auf seine eigene App mit seinem eigenen Angebot konzentrieren sondern muss verstehen, was seine Kunden tun und erwarten, wenn sie (unter anderem) zu ihm kommen.

Marken müssen noch viel mehr analysieren, in welchen Nutzungskontexten, an welchen Touch Points, sie die Nutzer mit dem eigenen Angebot erreichen können. Es wird nicht mehr reichen, sein Angebot auf die eigene Webseite zu stellen und darauf zu warten, dass die Nutzer es sich dort abholen. Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei.

Beitragsbild: Shutterstock

Über Heike Scholz 429 Artikel
Nach über zehn Jahren als Strategieberaterin für internationale Unternehmen gründete die Diplom-Kauffrau 2006 mobile zeitgeist und machte es zum führenden Online-Magazin über das Mobile Business im deutschsprachigen Raum. Heute ist sie ein anerkannter und geschätzter Speaker und gehört zu den Köpfen der deutschen Internet-Szene. Weiterhin ist sie Beiratsmitglied für die Studiengänge Angewandte Informatik und Mobile Computing an der Hoschschule Worms. Als Co-Founder von ZUKUNFT DES EINKAUFENS, begleitet sie die Digitale Transformation im stationären Einzelhandel. Sie berät und trainiert Unternehmen, die sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen und fördert mit ihrem Engagement die Entwicklung verschiedener Branchen und Märkte.

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